Allgemein

Eine historische Reflexion zum Krieg um die Ukraine: Das polnisch-russische Verhältnis nach dem Dreißigjährigen Krieg in Europa

Das mit Litauen seit 1569 vereinigte Polen (seit 1386 bereits in einer Personalunion) als mittel- und osteuropäische Großmacht war eine eigenartige Mischung von föderalem und in Teilen parlamentarischer und konstitutioneller Ständestaat: Nach dem Aussterben der Jagellonen auf dem Thron wurde der polnisch-litauische Staat eine Wahlmonarchie in dem das Ständeparlament, der Sejm über umfassende Zuständigkeiten verfügte.

Im Sejm waren die Magnaten – eine in Osteuropa übliche Bezeichnung für adlige Großgrundbesitzer – in überwältigender Mehrheit vertreten, was nach außen wie eine Adelsrepublik wahrgenommen wurde; entsprechend war Korruption und Mißwirtschaft die Folge. In seiner größten Ausdehnung umfaßte der polnisch-litauische Staat den größten Teil der heutigen Ukraine, die baltischen Staaten (das Herzogtum Livland und das Herzogtum Kurland); die Donaufürstentümer Moldau mit Bessarabien und die Walachei, ja, selbst das Herzogtum Preußen waren Lehen des polnisch-litauischen Herrschers.

Im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) waren weder Polen (dieses steht im Weiteren für das polnisch-litauischen Königreich) noch Rußland direkt involviert. Die aus diesem – auch „erster Weltkrieg“ genannten – Krieg verstärkt hervorgegangene und neue Ostseemacht Schweden versuchte sich die südliche Ostsee territorial und politisch zu sichern. In dem seit 1655 bis 1661 andauernden Zweiten Nordischen Krieg beteiligten sich neben den Hauptkontrahenten Polen und Schweden fast alle Ostseestaaten, einschließlich zeitweise auch Rußland.

Im Zuge des polnisch-russischen Vertrages von Wilna (auch Vertrag von Niemieź genannt) vom 3. November 1656, der den vorangegangenen polnisch-russischen Krieg durch einen Waffenstillstand unterbrach, wurde auch über das Gebiet der heutigen Ukraine verhandelt: Der Kosaken-Hetman (aus dem deutschen Hauptmann entlehnt, er war nach dem König der zweithöchste Militär) Bohdan Chmelnyzkyi hatte nach einem Befreiungskrieg sich 1648 von Polen unabhängig erklärt. An den Friedensverhandlungen waren die Kosaken allerdings nicht beteiligt. Rußland konnte seine Territorialforderungen nicht durchsetzen, befürchtete aber seinerzeit ein schwedische Ostseehegemonie.

Auf Betreiben des französischen Kardinals Jules Mazarins, der eine Schwächung seines Verbündeten aus dem Dreißigjährigen Krieg vermeiden wollte, beendete der Vertrag von Oliva (einem Vorort von Danzig) vom 3. Mai 1660 den Ersten Nordischen Krieg: Der polnische König verzichtete auf seine schwedischen Thronansprüche, Schweden behielt die ihm bereits im Westfälischen Frieden zugestandenen Gebiete Livland und Estland. Hingegen mußte Brandenburg Pommern, Schleswig und Holstein aufgeben. Das Herzogtum Preußen wurde souverän; dies gab Friedrich von Brandenburg die Handhabe sich 1701 als König in Preußen als Friedrich I. zu krönen.

Der polnisch-russische Krieg um die heutige Ukraine (übersetzt: Grenzland) ging unvermindert weiter. Der militärische Druck der Kosaken und Krimtataren brachte Polen zum Einlenken. Im Vertrag von Andrussowo mußte es auf Smolensk und Kiew sowie die linksufrige Ukraine (östlich des Dnjepr) zugunsten des Zaren verzichten. Das Gebiet der Saporoger Kosaken wurde ein Kondominium, eine gemeinsame Herrschaft beider Staaten. Zudem verpflichteten sich beide zur Verteidigung gegen das Osmanische Reich, einschließlich deren Vasallen, den Krimtataren. Dieser Krieg hatte für Polen nicht nur den Verlust immenser Gebiete, sondern auch den wirtschaftlichen Niedergang zur Folge.

Für die heutige Entwicklung der russisch-ukrainischen Auseinandersetzung ist bemerkenswert, daß nach dem Vertrag von Andrussowo vom 30. Januar 1667 erstmals der Name Ukraine auftauchte: Mit der Wahl des Hetman Iwan Brjuchowezkyis brauchte man eine Differenzierung zu dem rechts des Dnjepr herrschenden Hetman Pawlo Teterja: Brjuchowezkyis wurde der erste linksufrige Hetman der Ukraine. Im Banne des Zarenreiches führte dieser Hetman Kriege gegen Polen und seinen westlichen Rivalen.

Als Wahlkönigtum wurde Polen zusehends ein Spielball in der Zeit der Kabinettsintrigen und -kriege des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts: Selbst der Kurfürst von Sachsen, August der Starke, bewarb sich für den polnischen Thron und regierte als August II. in Polen-Litauen: Zwischen 1697 und 1706 und dann wieder zwischen 1709 und 1733. Als König von Sachsen-Polen verbündete sich August gegen den schwedischen Hegemon mit Peter dem Großen und Dänemark im Zweiten Nordische Krieg.

Der schwedische König, Karl XII., ein militärische Draufgänger, drang siegreich in Polen ein und unterbrach Augusts polnisches Königtum durch die Erhebung Stanislaus Leszcynskis zum König. Allerdings verlor Karl die Entscheidungsschlacht von Poltawa (8. Juli 1709); in einem abenteuerlichen Zug über Siebenbürgen setzte er sich ins Osmanische Reich ab. Peter der Große eroberte 1710 Livland und Estland, später sogar Finnland. Preußen trat 1715 der Koalition bei und sicherte sich im Frieden von Stockholm (1. Februar 1720) Vorpommern mit Stettin.

Der Frieden von Nystad vom 30. August 1721 beendete den Zweiten Nordischen Krieg mit Rußland: Livland, Estland, Ingermanien und Karelien wurden von Schweden abgetreten. Rußland stieg damit zur beherrschenden Ostseemacht auf.

Bürgerkriege und religiöse Auseinandersetzungen ließen Polen nicht zur Ruhe kommen. Der russische Expansionsdrang, befeuert auch durch die russische Orthodoxie, führte dazu, daß Polen immer mehr vom Zarenreich abhängig wurde. Katharina II. und Friedrich der Große konnten mit diplomatischen Kniffligkeiten auch Maria Theresia von Österreich von einer Teilung des unregierbaren Landes zu überzeugen: In drei Schritten wurde Polen zwischen 1772 und 1795 unter den drei Reichen aufgeteilt.

Auch wenn die Hoffnungen und Bestrebungen der Polen auf ein eigenes Reich nicht nachließen, so in den napoleonischen Kriegen und in dem sogenannten Kongreßpolen, blieb das ehemalige osteuropäische Reich unter den drei Großreichen aufgeteilt. Und damit verblieb der vorwiegende Teil des Gebiets der heutigen Ukraine im russischen Zarenreich. Erst die Pariser Verträge 1919 führten dazu, daß Polen souverän wurde. Auch wenn ein Teil der Westukraine an Polen fiel, verblieb der vorwiegende Teil der Sowjetunion. Erwähnenswert ist, daß letztere an dem Länderschacher der westlichen Alliierte in Paris nicht beteiligt wurde.
Herbert Karl

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert